Kompositionspreisträgerin 2010: Joanna Woźny

Konkretisierung und Abstraktion

Die dialektischen Klangwelten der Joanna Woźny

Das ganz Andere erkennen: Bei jeder Kunst, die sich selbst ernst nimmt, muss dies eines der wichtigsten Ziele sein – ganz gleich, ob es nun explizit als solches formuliert wird oder nicht. Das Andere zum Ausdruck zu bringen: Von diesem Versuch lebt auch jede ernst zu nehmende zeitgenössische Musik, stets an der Kippe zwischen Gelingen und Scheitern, zwischen dem Neuland des Nicht-Identischen und den Fahrwassern des Gewohnten. Für die Wahrnehmung bedeutet das Andere, ja das Neue an und für sich, freilich eine paradoxe Anforderung: Denn es gilt, den üblichen Modus, in dem wir alle Erscheinungen in der Welt klassifizieren, zu verlassen. Anstelle der Einordnung von Eindrücken in jene Schubladen, die uns zur Verfügung stehen, fordert das Andere von der Wahrnehmung eine Selbstüberschreitung, der sie sich immer nur annähern kann.

Dem Anderen eng verwandt ist die Veränderung. Wer sich fragt, wo sie beginnt und wo sie endet, sieht sich alsbald mit ähnlichen Paradoxien konfrontiert. So ist es auch mit der Musik von Joanna Woźny. Ihr Generalthema, wenn es sich überhaupt auf einen Nenner bringen lässt, bildet die ständige Verwandlung. Ganz unmerklich kann sie einsetzen und sich ihrem Gegenteil, der Wiederholung, entgegenstemmen. Ohnehin heißt Wiederholung nie bloße Wiederkehr desselben. Was schon einmal da war, wirkt beim nächsten Mal anders. Die Kompositionen auf der Porträt-CD, die als Teil des Erste Bank Kompositionsauftrags im Herbst 2011 beim Label Kairos erscheint, zeigen dies auf vielfache Weise. Sie alle drehen sich um Transformationen, die immer schon begonnen zu haben scheinen und endlos weitergehen könnten, würde sich nicht zugleich eine immer wieder etwas andere Dramaturgie des allmählichen Verklingens erfüllen.

Etwas davon mag Joanna Woźny ihrem Grazer Lehrer Beat Furrer abgelauscht haben, doch noch mehr muss es schon immer zu ihrer Eigenart gehört haben. Gemeinsam ist Schülerin und Lehrer auch eine besondere Affinität zur Stille, ohne dass sich die Musik in beiden Fällen darin erschöpfen würde. Was Joanna Woźny betrifft, gab es in der Zeit rund um ihren Studienabschluss (2003), als sie erstmals in eine breitere Öffentlichkeit trat, in ihren Partituren zwar eine deutliche Tendenz zur Zurückhaltung in punkto Dynamik und Ereignisdichte. Ebenso deutlich hat sich allerdings in ihrem Komponieren in den letzten Jahren eine Veränderung ergeben, eine Veränderung, die auf den ersten Blick möglicherweise größer erscheinen mag, als sie tatsächlich ist. Das Leise, Verhaltene, das zunächst bei weitem überwogen hatte und kaum je verlassen wurde, bekam Konkurrenz: Massivere Klänge traten auf den Plan, heftige Ausbrüche begannen Woźnys filigrane Klanggebilde zu durchziehen. Doch dienen solche Eruptionen nicht zuletzt dazu, das Gehör des intendierten Hörers, der Hörerin, weiter zu schärfen für die Nuancen und die Zerbrechlichkeit ihrer gesamten musikalischen Ausdrucksweise. Hier wird ein Umstand besonders klar, der in ihrer Musik auf Schritt und Tritt begegnet: Das musikalische Denken der Komponistin zeigt sich in jeder seiner Verästelungen als zutiefst dialektisch; doch muss man den Verrätselungen ihrer Musik nicht bewusst bis in jeden Winkel folgen, um sie hörend zu ertasten; wer dies allerdings dennoch wagt, wird noch mehr Gewinn aus ihr erzielen.

Die dialektischen Klangwelten von Joanna Woźny vermitteln zwischen Konkretisierung und Abstraktion, zwischen Massierung und Verfeinerung, wobei ständig das eine in das andere umschlagen oder kaum merklich übergehen kann. Nur wenig davon lässt sich unmittelbar festmachen, dieses wenige ist aber von großer Kraft und Intensität – wie die kleinen Gesten am Beginn von „as in a mirror, darkly“ (2010) für Ensemble, die sich in einem dichten Ereignisfeld entfalten. Was wiederholt sich, was verändert sich hier? So vielfältig sind die Bezüge, dass es darauf keine eindeutige Antwort zu geben scheint, sondern jeder und jede eine etwas andere Sichtweise finden kann. Eineindeutigkeit des Geschehens ist überhaupt etwas, was in Woźnys Musik beinahe schon argwöhnisch vermieden wird. Stattdessen wird „as in a mirror, darkly“ von mäandernden Schlieren durchzogen, die zu jenen Gedanken führen, welche die Komponistin für dieses im Zusammenhang mit dem Erste Bank Kompositionsauftrag entstandene Werk formuliert hat: Hier hat sie etwa „Verunreinigungen, wie sie sich z. B. auf (alten) Filmstreifen durch Staubpartikel und Kratzer ergeben oder die sich einem zeigen, wenn man durch ein zerkratztes Glas schaut“, als Metaphern für jenen Prozess gefunden, in dem die anfangs so klar exponierten Gesten verwischt und verunklart werden. Beispielsweise von Glissandi, die von den Streichern vollführt werden, oder Wischbewegungen, welche auch die Bläser andeuten. Die Zeit scheint stillzustehen, nachdem sich etwa in der Mitte des Werks das Klavier mit ungewöhnlicher Präsenz zu Wort gemeldet hat.

Da schon vom Wort die Rede ist: Die musikalischen Vorgänge hier in Sprache zu fassen, bedeutet eine besondere Schwierigkeit, zumal auch beim Hören und Lesen der Partitur Zusammenhänge nur halb entschlüsselt werden können. Viel eher bleiben sie in der Luft hängen. Wenn in der zweiten Hälfte des Stücks das, was vorher gewesen ist, wie von der Rückseite betrachtet wird, kehren bekannte Elemente verändert wieder – oder erinnern sie, nachdem die Wahrnehmung geschärft wurde, nur an bereits Gehörtes?

Es zeugt von mehr als nur einer Neigung zu bestimmten Instrumentalfarben, dass Joanna Woźny eine besondere Vorliebe für die komplexen Mehrklänge von Blasinstrumenten an den Tag legt, wie dies etwa auch in „Return“ (2006) für Saxophon und Ensemble der Fall ist. Zwiespältig und vag, spielt sich hier der größte Teil der Interaktionen zwischen Individuum und Kollektiv auf klanglicher Ebene ab; und der größte Teil der Entwicklung innerhalb des Stücks findet statt zwischen einer Konkretion in greifbare Gestalten oder Gesten und ihrer Auflösung in mikroskopisch ausgeleuchtete Klänge – bis hin zu einem Punkt, wo diese Unterscheidung keinen Sinn mehr macht, da sich mikroklangliche Prozesse und konkrete Konturen zu sehr durchdringen. Auch das ist ein Aspekt, auf den die Musik von Joanna Woźny die HörerInnen aufmerksam machen möchte, ebenso wie auf den Umstand, dass jede Wiederholung etwas Zweischneidiges hat. Vieldeutig hat die Komponistin angemerkt, dass „Return“ auf „verschiedene Formen von Wiederholungen“ anspielt, „von wiederkehrenden kurzen musikalischen Abschnitten, Motiven und Klängen bis hin zur Wiederholung von formalen Einheiten“, doch gleich einschränkend hinzugefügt, dass diese „Wiederholungen weder allzu deutlich noch genau lokalisiert“ sind. Und so bleibt der Werkkommentar ebenso offen wie das Stück selbst: Man ist „mit der Situation einer Rückkehr konfrontiert, bei der das musikalische Material sich nach seiner vorübergehenden Abwesenheit (oder vielleicht nur nach seiner Transformation?) neu konstituiert“. Transformation, Verwandlung begegnet auch hier allerorten, wenn etwa einzelne Töne vibrieren, bis sie beben, wenn aus der Klangfarbe der Anstoß für weitere Entwicklungen erwächst – ein Zeichen für jene Energie, die Woźnys Musik insgesamt durchdringt.

Das gilt noch für so zurückhaltende Ausformungen ihres Komponierens wie die Haiku-Vertonung „kahles Astwerk“ (2007/2008) für Stimme, Flöte, Violine und Violoncello. Der Begriff der „Vertonung“, den die Komponistin selbst verwendet, ist dabei selbstredend anders zu verstehen, wie wenn von herkömmlichen Liedern die Rede ist. Vielmehr ist der titelgebende Text dem Stück „eher als Motto vorangestellt“, er „erscheint nur spärlich (meist gesprochen) in Andeutungen“ (Woźny). Die Klangsprache ist hier minimal, aber alles anderes als kahl. Innerhalb langgezogener Klangfelder ist die Stimme meist eingebettet in ein Geflecht, aus dem Seufzer oder vereinzelte Laute hervortreten. Und da die „Singstimme […] primär klanglich eingesetzt“ ist, wird sie zum festen Bestandteil des Geflechts aus feinsten Nuancen. Eine Musik nahe am Verstummen und doch äußerst beredt: Insgeheim bilden das leise flüsternde Zischen der Stimme und die verhauchenden Klänge der Instrumente einen unauflöslichen Zusammenhang, der ebenso gefährdet wie bezwingend erscheint.

Wie in große Dimensionen umgelegt ist die Problematik des Zusammenhangs, des Zusammenhalts in „Loses“ (2006) für großes Orchester mit seinen vibrierenden Schwebungen und ausgedehnten Klangfeldern. Der Titel lässt an den Begriff der „Losigkeit“ denken, den Martin Erdmann einmal für die Musik von Morton Feldman geprägt hat. Und doch sind die Verbindungslinien zwischen dem Disparaten enger, als es der Titel andeutet – eine „paradoxe Intervention“ (Viktor Frankl, Paul Watzlawick), die beim Hören doch wieder die Suche nach dem Zusammengefügten anregen soll? Der Werkkommentar schließt dies nicht aus, ist doch davon die Rede, dass die heftig durchfurchte Komposition „scheinbar zusammenhangslos, richtungslos, beziehungslos“ wirke und ein ständiges „In-Frage-Stellen des Geschehenen“ ermögliche. Eruptive Schläge leiten über zu deutlichen und verschleierten Repetitionen, zum Wiederaufgreifen von Gesten in anderer Lage, in anderer Geschwindigkeit, mit anderen Klangfarben. Die „scheinbare“ Zusammenhanglosigkeit, aus der sich beim Hören dennoch wieder Kontexte dechiffrieren (oder konstruieren?) lassen, lebt in „Loses“ von einer radikalen Aufsplitterung des Geschehens, sowohl in der Horizontalen als auch in der Vertikalen, wenn Ereignisse wie einzelne Klanginseln nebeneinander gestellt sind oder sich Liegeklänge bebend erheben, als ob sie die Konturen in sich verschwinden lassen wollten. Auflösung, Verklingen, Entschwinden, und wieder: Stillstand der Zeit.

In dialektischer Gegenbewegung zu seinem Titel ließe sich schließlich auch das delikate Kammermusikstück „Vom Verschwinden einer Landschaft II“ (2010/2011) für Klavier, Violine, Viola und Violoncello interpretieren. Man könnte nämlich durchaus ebenso vom Entstehen einer landschaftlichen Silhouette sprechen, wenn hier die Konturen allmählich aus dem gemeinsamen Flirren der Instrumente herauswachsen. Die Musik „sucht trotz bzw. gerade wegen der unterschiedlichen Instrumentenidiome (Klavier und Streicher) nach klanglichen Gemeinsamkeiten“ (Woźny) und lässt aus wiederum nur scheinbaren Gegensätzlichkeiten Gemeinsamkeiten entstehen, nicht nur auf klanglicher, instrumentatorischer Ebene, sondern auch hinsichtlich der Strukturen. Man kann deutlich hören, dass alle Instrumente des Klaviertrios Saiten haben und dass sich diese trotz der unterschiedlichen Bauart der Instrumente auf ähnliche Weise in Schwingung versetzen lassen. Und zwischen all den starren Repetitionen, Klopfgeräuschen und erstickten Klängen sind es auch hier wieder die rastlosen kleinen Motive, die wie in der ganzen Musik von Joanna Woźny immer wieder hervordringen – und die sie zwischen Abstraktion und Konkretisierung in beständiger Spannung halten.

Text: Daniel Ender